Kind ohne Zimmer

2012, Mai 30th

Göran Gnaudschun, Repro vom Programm, 2012

„J. wollte weg damals, nur weg. Eine Weltreise machen. Mit dem Wochenendticket. Keine Ahnung wohin. Weiter als bis zum Alex ist J. nicht gekommen“

Annett Gröschner ist Geschichtensammlerin. Immer wachsam. Hört zu. Schreibt auf. Was das Leben so bereithält. Sie gestaltet Gehörtes und Erlebtes zu Geschichten. Verdichtet das, was die Wirklichkeit bereithält. In Ihrer Herangehensweise ist Sie damit dem Fotografischen sehr ähnlich, es gibt die Spur zur Wirklichkeit. Aus dokumentarischem Material entsteht durch Montage Neues, was weiter zeigt als das Sujet reicht. Seit Sommer letzten Jahres ist der rasante Berlin-Episodenroman Walpurgistag erschienen, den ich dem geneigten Blogleser wärmstens empfehlen kann!

Kind ohne Zimmer handelt von der Kindheit, vom Fehlen des eigenen Raumes, vom Fehlen der Eltern, von Schmerz, Sehnsucht und Einsamkeit. Vom Verlassen und vom Verlassenwerden. Das Kinderzimmer als Schutzraum, Sehnsuchtsort und Falle. „Ich werde wiederkommen, aber nicht mehr in das Kinderzimmer.“

Kind ohne Zimmer besteht ausschließlich aus Interviewfetzen. Annett Gröschner hat mit Heimkindern, Kindern in einer Betreuungseinrichtung, einem Erwachsenen, dessen Tochter abgehauen ist und älteren Menschen, die sich an ihr Kinderzimmer erinnern, gesprochen. Die Interviews mit jungen Obdachlosen vom Alexanderplatz  sind von mir: irritierend war es schon, mir bekannte Sätze aus fremden Mündern zu hören. Es ist der Abstand, die Interpretation, die Kunstform, die da wirkt.

Die frühe Kindheit geht jäh über zu den „erwachsenen, nicht mehr kindlichen Menschen“(Novalis), die den Verlust abstreifen wollen, die das Straßenleben wählen, abhauen von zu Hause, die sich auf der Suche nach sich selbst vielleicht auch verlaufen haben. Kein Zimmer, nicht mal eins mit anderen geteilt.

Sehr junge Schauspieler und zwei ältere (dabei: Michael Schweighöfer) spielen ungeheuer druckvoll und abwechslungsreich. Das Stück hat durch die Nacherzählung etwas ungeheuer Authentisches, gleichzeitig aber auch etwas Artifizielles, wodurch eine gesunde Distanz zum Thema entsteht. Keine Nummernrevue, sondern gemeinsames Schauspiel im besten Sinne.

Ich zeige im Foyer der Kammerspiele einige Bilder aus meiner Arbeit „Berlin Alexanderplatz“. Versteht man aber erst, wenn man das Stück verlässt, was ich aber besser finde, als den Holzhammer anzusetzen.

Die letzten zwei Vorstellungen in dieser Spielzeit, am 02. und 03. Juni, 19 Uhr, sind ausverkauft, es gibt aber noch Restkarten an der Abendkasse. In der nächsten Spielzeit gibt es noch Aufführungen.

Kind ohne Zimmer von Annett Gröschner
Deutsches Theater
Schumannstraße 13a
10117 Berlin

Göran Gnaudschun

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